20 Jahre nach dem bewegenden Kongress zu Spontanremissionen bei Krebs in Heidelberg wurde jetzt in Hamburg in einem respektablen Saal der ‚Patriotischen Gesellschaft von 1876‘ die Frage gestellt, wie können Menschen aus einem pathogenen Regulationsmuster aussteigen und zu einer salutogenen Selbstregulation finden? Gut 250 Menschen, Behandler und Betroffene, waren der Einladung des Arbeitskreises Salutogenese bei Krebs ASK gefolgt, um eben dieser Frage gemeinsam nachzugehen.
Nach der Begrüßung durch Dr. Walter Weber (Hamburg), dem Sprecher des ASK und Initiator dieses Kongresses, stellte Dr. Günther Linemayr (Wien) kurz den ASK vor und veranschaulichte eine ganzheitliche somato-psycho-soziale Sichtweise auf den Menschen.
Der Allgemeinarzt Theodor Dierk Petzold (Bad Gandersheim) erklärte die Vorteile einer salutogenetischen Orientierung für Menschen mit (und ohne) Krebs am Zusammenspiel der grundlegenden neuropsychischen motivationalen Systeme zur Annäherung an attraktive Gesundheitsziele und zur Abwendung von Bedrohungen. Im Abwendungsmodus ist der Organismus auf Stress eingestellt, im Annäherungsmodus auf Lust und Sinnfindung. Das Annäherungssystem dient dem Finden von Kohärenz-/Stimmigkeitserleben, sowohl innen als auch sozial und kulturell. Menschen mit einer Krebserkrankung fühlen sich oft als Opfer – der Krankheit, der Ärzte / Behandlung und/oder anderer Umstände / Erfahrungen in ihrem früheren Leben. Dieses Gefühl ist mit dem Abwendungsmodus und damit mit der Stressregulation verbunden. Opfer zu sein ist eine Rolle in einem stressenden Beziehungsmuster von Täter-Opfer-Retter/Richter („Opferdreieck“). Der Ausweg ist Autonomieentfaltung hin zur salutogenen Selbstregulation im Vertrauen in eine größere Stimmigkeit.
Die Psychotherapeutin Corinna Köbele (Kalbe; Referentin des Heidelberger Kongresses 1997) resümierte „Spontanremission in der OnkologieLehre von den Krebskrankheiten 1997-2017“ als „komplettes oder teilweises Verschwindens eines malignen Tumors (> 50 %) oder Metastasen über mindestens 1 Monat oder anhaltende Rückbildung relevanter Tumorparameter ohne medizinisch adäquate Therapie“.
In Fallstudien ist ihr besonders die Konfrontation mit dem Thema ‚Tod‘ begegnet. Diese wirft Fragen nach dem Wozu des Lebens auf. Folge dieser Auseinandersetzung ist das Infragestellen bisher gelebter Verhaltens- und Erlebensmuster. Dies beinhaltet eine neue Orientierung der Frage nach dem Wozu des Lebens und eine Veränderung früherer Erlebens-und Verhaltensmuster. Subjektiv zufriedenstellend werden die vorgenommenen Veränderungen dann erlebt, wenn sie in eine Übereinstimmung mit der sozialen Umwelt gebracht werden können. Köbele hält noch neue Angebote für Veränderung der Muster notwendig und betont, dass es keine Lösung für alle gibt: „Jeder Mensch ist einzigartig.“
Dr. Herbert Kappauf (Starnberg) war 1997 einer der Organisatoren des Heidelberger Kongresses und beeindruckte jetzt mit einer Fülle von aktuellen Statistiken, die belegen, dass Spontanremissionen keine Seltenheit sind. Er präsentierte dazu andere Zahlen als die üblicher Weise genannten von 1:60.000 (s.a. Köbele), die u.a. dadurch zustande kommen, dass Krebsarten differenziert betrachtet werden müssen. Demnach treten Spontanremissionen bei einigen Krebsarten nur sehr selten auf und bei anderen im ein-bis zweistelligen Prozentbereich, wie z.B. bei malignen Melanomen, Nierenzellkarzinomen, Non-Hodgkin- Lymphomen, kindlichen Neuroblastomen. Dieses häufige Auftreten kommt besonders durch frühe Screening-Diagnostik zustande. Beim Prostatakarzinom kommt es laut S3-Leitlinie 2016 dazu, dass „Unter den durch Screening … entdeckten und behandelten Tumoren wird ca. jeder zweite unnötig behandelt.“ Kappauf wies auch darauf hin, dass viele moderne Chemotherapeutika aus der Beobachtung von Spontanremissionen entwickelt wurden. Daraus können wir folgern, dass sich womöglich auch andere Behandlungs- und Verhaltensoptionen aus der Untersuchung von Gesundungsverläufen ableiten lassen.
Prof. Dr. Spitz (Neuss) zeigte gleichermaßen humorvoll und wachrüttelnd stressende pathogene Zusammenhänge von Umwelt und Mensch bis hin zu epigenetischen Wirkungen auf und wies mit markanten Vergleichen in seinem sehr unterhaltsamen Vortrag auf all die guten Verhaltensweisen und auch Nahrungsmittel hin, die Krankheiten vorbeugen können. An Hand von Tabellen demonstrierte er wie Synergieeffekte nicht nur bei Risikofaktoren sondern auch bei salutogenen Verhaltensweisen vorkommen. Dass also Bewegung, hinreichend Sonnenlicht, gute Luft und Ernährung und gesunde Lebenseinstellung zusammen mehr wirken als aus einer Addition der Einzelwirkungen zu erwarten wäre. Eine Optimierung der Ressourcen der Umwelt führt – so Spitz – zur Entfaltung der evolutionär angelegten Potentiale, wozu auch die Fähigkeit zu Regeneration und Gesundheit gehören.
Am Samstagmorgen fütterte Prof. Dr. Christian Schubert (Innsbruck) uns mit einer Fülle aktueller Erkenntnisse aus der Psychoneuroimmunologie PNI. Sowohl pathogene Zusammenhänge von Stress und Krankheitsentstehung als auch salutogene Wirkungen von positiven psychischen Faktoren / Erfahrungen („Positive PNI“) wurden gefunden. Chronischer Stress mit erhöhter Kortisolausscheidung fördert sowohl Krebsentstehung, -wachstum und Metastasierung. Auch wenn die Erforschung einer positiven PNI-Achse noch ganz in den Anfängen steckt, kann man schon sagen, dass ein psychischer „Wohlfühl-Modus“ mit seinen hormonellen und neuronalen Komponenten immunologische Schutzmechanismen stärken und Heilungsvorgänge fördern kann. Selbstwirksamkeit, vertraute soziale Beziehungen, Achtsamkeit u.a.m. sind positive psychische Faktoren. Um die hier noch schlummernden Erkenntnisse und salutogenen Ressourcen zu entdecken, schlägt Schubert neue Forschungsansätze vor, die mehr am Subjekt in seinem normalen Umfeld orientiert sind und individuelle zeitliche Verläufe von psychischen und immunologischen Parametern auf Ereignisse und Verhalten untersuchen.
Wiltrud Krauß-Kogan (Psychotherapeutin in Frankfurt a.M.) schilderte zunächst das Gefühl von Angst, das Menschen bei einer Krebserkrankung leicht bekommen, wenn sie sich dieser bedrohlichen Diagnose stellen müssen. Im weiteren Verlauf wächst auch die Hoffnung – sogar auf einen höheren Pegel als bei der Normalbevölkerung, wie sie anhand einer norwegischen Studie belegte. Von dem „Prinzip Hoffnung“ (Bloch) mit einem „antizipierenden Bewusstsein“ leitete sie über zu dem heilsamen Faktor eines positiven Glaubens an eine wohlwollende höhere Macht, womöglich verbunden mit „einer Einordung des katastrophalen Geschehens in einen übergeordneten Sinnzusammenhang.“ Hier wies sie auf Analogien zur Trauma-Verarbeitung hin.
Prof. Dr. Hartmut Schröder (Berlin) belegte mit vielen Beispielen aus der Placebo-/Nocebo-Forschung die Wirksamkeit von Informationen, wie sie durch Sprache, Medikamente und andere Behandlungen übermittelt werden. Die Wirkung / Antwort auf Informationen versteht er als „Resonanz“. Diese Informationen können sowohl Krankheit und Tod hervorrufen (Nocebo) als auch heilend wirken (wie in einer guten Konsultation u.Ä., was oft als „Placebo“ bezeichnet wird). Er spricht sich für eine Modifikation der Heilkultur selbst aus, für eine Einbeziehung von Geist und Bewusstsein, Kultur und Spiritualität in Heilungsprozesse und einer Verbindung von Natur- und Kulturheilkunde.
Dr. Günther Linemayr (Wien) betonte die salutogene Wirkung aktiven Copings, autonomer Bewältigungsstrategien von an Krebs Erkrankten. Dazu gehören, dass sie aktiv Informationen über Krankheit und Behandlung suchen, bei der Therapie mitentscheiden, einen Plan machen, entschlossen gegen die Krankheit ankämpfen (fighting spirit) und sich vornehmen, intensiver zu leben. Zwei weitere positive Aspekte sind Akzeptanz und Selbstkontrolle / Kontrollüberzeugung. In unterschiedlichen Studien hätten sich besonders folgende Faktoren als salutogen herausgestellt: Ein hohe Lebensqualität, Emotionale / soziale Unterstützung, soziale Integration, Autonomie, Fähigkeit zu Gefühlsausdruck / Extroversion, Stressabbau.
Reinhold Williges (Psychotherapeut, Pforzheim) berichtete als Mitbegründer der beiden psychoonkologischen Fachgesellschaften engagiert und emotional aus seiner über 40-jährigen Praxis unter dem Motto: „Die Psychosomatik der Krankheit ist die Psychosomatik der Heilung.“ Sein Selbstverständnis als Psychotherapeut ist: „Anwalt des Körpers – geliehener Freund des Bewusstseins“ zu sein. Der Fokus der Behandlung soll auf der Kopf-Körperbeziehungs-Achse liegen. Das Ziel der Psychoonkologie sollte sein: „Anstiftung zu Lebensfreude und nebenbei gesünder werden – und das selbstgemacht!“
Prof. Dr. Michael Schoenberg (München) zeigte uns eindrucksvoll an vielen qualitativ hochwertigen Studien, dass die Kombination von körperlicher Aktivität, gesunder Ernährung und Psychoonkologie nicht nur die Lebensqualität, sondern in besonderem Maße die Prognose der Erkrankung um 30 – 40 % zu verbessern mag (=optimierte Krebstherapie). Eine Reduzierung des allgemeinen Mortalitätsrisikos um 14% und eine 3 Jahre längere Lebenserwartung kann schon mit 15 Minuten Sport am Tag erreicht werden. Etwas mehr bringt auch noch etwas mehr. Die Reduktion der Karzinominzidenz beträgt ca. 25%. „Wenn wir jedem Individuum das richtige Maß an Nahrung und Bewegung zukommen lassen könnten, hätten wir den sichersten Weg zur Gesundung gefunden.“ Sagte schon Hippokrates (460-370 v. Chr.).
Dr. Wolf Büntig (Initiator des ASK; Penzberg) widmete seinen Vortrag der „Autonomie als Basis salutogener Entwicklungen“. Als Merkmale führte er u.a. auf: Selbstgefühl, Stimmigkeit, Orientierung, Entschiedenheit, Wille, Zuversicht, Eigensinn, Eigenverantwortung, gesunde Aggression und Abwehr. Zur Autonomieentwicklung gehört eine potentialorientierte Psychotherapie, die dem Menschen hilft, seine Grundbedürfnisse im Sinne Maslows wahrzunehmen und erfolgreich zu kommunizieren. Wenn Menschen das lernen, ‚entwickeln‘ sie sich womöglich wie eine Raupe: „Was die Raupe Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt Schmetterling.“ Lao Tse.
Für derartige Entwicklungen gaben von Krebs betroffene Menschen eindrückliche Beispiele. Frau Beate Hüfner (HP, Qigong Lehrerin; Illertissen) berichtete, wie sie von Dr. Weber freundlich wohlwollend und engagiert angenommen und durch auf Rezepte geschriebene Fragen auf ihrem individuellen Weg zur Reflexion angeregt und begleitet wurde. Auf ihrem Gesundungsweg hat ein Glauben immer eine große Rolle gespielt.
Herr Tim Ohrt (Initiator und Leiter einer Prostata-Selbsthilfegruppe; Hamburg) nahm uns mit auf seinem viele Jahre langen Weg zu immer mehr Autonomie in allen seinen Beziehungen. Besonders berührend war die Entfaltung seiner künstlerischen Kreativität zusammen mit seiner Frau, als sie zum Kirchentag Schaufensterpuppen zu Engeln verwandelten und damit einige Plätze der Hansestadt schmückten.
Prof. Dr. Gregor Esser (Mönchengladbach) berichtete anhand von Röntgenbildern von einem Verschwinden einer großen Lungenmetastase bei einem operierten malignen Melanom. Er sieht die salutogenen Faktoren in seinen Aufgaben: Er (86 Jahre alt) wollte noch seiner kranken Ehefrau und seiner Schwester helfen und hatte deshalb keine Zeit zum Kranksein.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Sich nicht unterkriegen lassen, immer wieder im Rhythmus autonom seine eigene Stimmigkeit finden und leben, das Leben dankbar feiern und sinnvoll nutzen, ggf. um anderen zu helfen – das ist Salutogenese (nicht nur) bei Krebs. Ein sehr dichter und hoffentlich ansteckender Kongress.
Theodor Dierk Petzold