Die Geschichte von Frau N.N. – Ein Therapiebericht
von Wolf E. Büntig
Als Psychotherapeut bin ich zuständig für die Behandlung von Neurosen. Das sind unlösbar erscheinende innerseelische Konflikte, die zwar in Beziehung zur Gegenwart wahrgenommen werden, jedoch auf alte Gewohnheiten im Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln zurückzuführen sind. Diese Gewohnheiten werden von uns in früher Kindheit angenommen, um unsere Eltern zufrieden zu stellen, indem wir unser wahres Wesen vor ihnen verbergen und uns so vor Ablehnung, Verlassenheit, Überforderung, Demütigung, gewalttätigen Strafen und Kränkung schützen. Ich wusste, dass neurotische Gewohnheiten auch körperliche Krankheit zur Folge haben können.
Aber Krebs?
Vor vielen Jahren brachte mich eine Patientin auf den Gedanken, dass unter Umständen auch die Krebskrankheit mit unverarbeiteten seelischen Konflikten zusammenhängen könnte. Heute weiß ich, dass seit viertausend Jahren der Zusammenhang zwischen Krebs und Melancholie von den Ärzten immer wieder beobachtet und diskutiert wird, doch damals war mir der Gedanke neu.
Frau N.N. war 1974 an einem Schilddrüsenkrebs erkrankt. Ein Jahr nach Entfernung der rechten Schilddrüse hatte sich auf der gleichen Halsseite eine Lymphknotenmetastase gebildet, die ebenfalls entfernt wurde. Die verantwortlichen Ärzte hatten der Patientin zu einer entstellenden Radikaloperation geraten, der ein Großteil der Weichteile des Halses zum Opfer gefallen wäre. Dazu wollte und konnte sie sich nicht entschließen. Sie wollte selbst etwas für sich tun, ohne recht zu wissen, wie. Meist fühlte sich Frau N.N. in jener Zeit als Opfer eines anonymen Schicksals und schwankte zwischen völliger Resignation und massiver Verdrängung. Bisweilen jedoch sah sie sich auch als Urheber des Krebses: Der Krebs war etwas, wofür sie selbst Verantwortung hatte. Sie suchte einen Psychotherapeuten, um herauszufinden, »was ich für eine Person bin, dass ich so etwas mit mir mache, und warum ich das mache«.
Vom März 1975 bis November 1976 war Frau N.N. bei mir in ambulanter psychotherapeutischer Einzelbehandlung (Bioenergetik und Gestalttherapie) und bei einer anderen Therapeutin in einer Ausbildungsgruppe in Bioenergetik, die einmal im Monat zusammenkam. Auf eine Heilung von Krebs durch die psychotherapeutische Behandlung zu hoffen, wäre vermessen gewesen. Die Bioenergetische Therapie schien jedoch geeignet, die Widerstandskraft und den Lebenswillen der Patientin zu stärken. Im Laufe von anderthalb Jahren fand Frau N.N. von fremdbestimmten Selbst- wertvorstellungen, die sich an hohen Ich-Idealen, Leistung und Anerkennung von außen orientierten, zu einem persönlichen Selbstgefühl, das in ihrer Körperlichkeit verwurzelt war.
Zwei Jahre nach Beendigung der Therapie glaubte Frau N.N. immer wieder eine Schwellung an der linken Halsseite zu bemerken, die je nach Stimmungslage zunahm oder abnahm und sie sehr ängstigte. Sie stellte sich beim Probeschnitt als Narbengewebe in der Umgebung der Halsschlagader heraus.
Frau N.N. lebt heute (Das war acht Jahre nach der Ersterkrankung. Inzwischen habe ich Frau N.N. zufällig wieder getroffen. Sie war – 35 Jahre nach der Ersterkrankung – gesund und blickte auf ein erfülltes Leben zurück.) gesund und zufrieden; sie hat geheiratet, hat einen gesunden Sohn geboren und geht einer befriedigenden Arbeit nach.
Krebs ist heute für mich eine Krankheit des ganzen Menschen, bei der die Tumoren ein lebensbedrohliches Symptom sind. Dieses Symptom kann man operativ entfernen, die Heilung besteht jedoch in einem Wandel der persönlichen Lebensweise.
Vor kurzer Zeit bat ich Frau N.N. um ein Gespräch, um von ihr zu lernen, in welcher Beziehung sie ihren Krebs und seine Heilung zu ihrer persönlichen Geschichte sah und wie ihre Ängste vor dem Krebs mit Frustrationen und Befriedigungen in ihrem täglichen Leben zusammenhingen. Die folgenden Ausführungen sind Ausschnitte aus diesem Gespräch, die mit zusammenfassenden Kommentaren verbunden werden.
Ich verdränge oft
N.N. (Patientin): »… an sich habe ich gedacht, es ist ganz gut, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen; denn dadurch werde ich mir auch immer klarer und selber mache ich mir nicht diese Mühe, darüber nachzudenken.«
WB (Therapeut): »Machen Sie sich nicht die Mühe, oder verdrängen sie?«
N.N. »Ja, ich verdränge.«
WB »Sind Sie sicher?«
N.N. »Ich verdränge oft, doch ich arbeite auch oft hart daran.«
WB »Also beides.«
N.N. »Beides. Und jetzt nach der Operation, wo sich eben herausstellt, dass ich nichts habe, da habe ich gemerkt, was es mir ausgemacht hat. Es ist so, als ob mir eine irrsinnige Last weggenommen wurde, und das hat zurückgewirkt auf die Beziehung zu meinem Mann, auch auf die Sexualität und alles andere. Wir sind jetzt so gut miteinander, als ob eine Wand zwischen uns weggegangen ist. Als ob wir vorher durch die Angst uns nicht hingeben konnten. Auch Martin sehr stark die Angst: ›Ja, und wenn sie stirbt, besser ich gebe mich nicht ganz …‹ Und diese Angst macht einen sehr starr mit der Zeit, und das wirkt auch auf die sexuelle Beziehung zurück. Das habe ich aber alles vorher nicht gesehen. Ich dachte, meine Beziehung ist gut. Und wenn es einmal nicht geklappt hat sexuell – o. k., das lag an der Arbeit.«
WB »Das ist das Teuflische an der Starre, dass sie das Gespür vermindert.«
Ich übe jeden Tag
N.N. »Ja, gewiss. Und überhaupt, ich habe das Gefühl, ich bin mehr kreativ geworden, jetzt. Gleich nach der Operation hatte ich eine Menge neuer Ideen über meine Arbeit. Was auch unglaublich ist, dass ich nach der Operation eine sehr lange Zeit viele und starke Träume hatte. Schade, dass die Träume verschwinden, je mehr ich wieder in den Alltag hineinkomme, mein Leben in der Nacht war so viel reicher geworden.«
WB »Gibt es etwas, das Sie täglich oder beinah täglich üben?«
N.N. »Ja, ich übe jeden Tag eine halbe Stunde für mich selbst zu nehmen. Einfach zu faulenzen.«
WB »Erst seit der Operation oder vorher schon?«
N.N. »Vorher schon. Ein paar Monate.«
WB »Dann wundert mich, dass Sie in den paar Monaten vorher in der halben Stunde nicht etwas gemerkt haben von dieser, ich würde sagen Depression, von diesem Starrwerden.«
N.N. »Doch, das habe ich gemerkt. Deswegen habe ich mich ja für die Operation entschieden. Ich habe gemerkt, dass ich das so nicht weitermachen kann, und ich habe mich in dieser halben Stunde entschieden, mir selbst dadurch zu helfen, dass ich eine Entscheidung treffe. Das habe ich so gemacht: Ich habe mir drei Tage lang vorgenommen, ich mache die Operation, und ich habe geschaut, wie meine Gefühle sind, und drei Tage habe ich gedacht, ich mache die Operation nicht. Und nach diesen sechs Tagen… also während der Tage, wo ich sagte, ich mache die Operation nicht, habe ich immer in den Spiegel geschaut, immer wieder wie verrückt geschaut, ob es jetzt gewachsen ist … also da habe ich genau gewusst, dass ich die Operation will und habe sie sofort machen lassen.«
WB »Sonst noch etwas, was Sie üben?«
N.N. »Ja, ich übe jeden Morgen, den Spiegel zu nehmen, mich anzuschauen und mir zu wiederholen, wie gut ich bin, wie nett ich bin, wie toll ich bin. Und ganz spezifisch über meine Arbeit, dass ich sie gut mache und so; ich spreche mit mir und verstärke mich positiv.«
Ich spüre, dass ich eine ganze Frau bin.
WB »Schauen Sie auch die Frau an, die zurückblickt?«
N.N. »Ja.«
WB »Gefällt sie Ihnen?«
N.N. »O ja, sie ist toll. (Wir lachen beide herzlich …) Ja, und ich spüre das zum ersten Mal so stark in der letzten Zeit, dass ich eine ganze Frau bin, und auch attraktiv; halt eine Frau, eine volle Frau.«
WB »Das haben Sie früher nicht gespürt?«
N.N. »Doch, aber das Gefühl ist jetzt durchgehender. Ich denke, die Arbeit an mir in all den Jahren kommt jetzt massiv raus, so in einem durchgehenden Gefühl.«
Auf die Frage des Therapeuten, warum die Patientin ihn seinerzeit aufgesucht hätte, antwortete sie: Aus Verzweiflung, weil sie Metastasen hatte. Sie wollte mehr über sich und die Krankheit erfahren: »Wie mache ich das, dass in meinem Körper etwas wächst? Was kann ich dagegen tun?«. Dann erinnert sich die Patientin, dass in ihrer Heimat Sizilien alle wissen, dass es Wunder gibt, und »Wunder haben verschiedene Ursachen: Gott, schwarze Magie, oder man hat einen starken Willen … Wenn man einen starken Willen hat, kann man alles heilen.«
Damals lernte sie ihren jetzigen Mann kennen, einen Arzt, den sie der Geschwulst wegen um Rat fragte. Sie war verliebt, wollte leben. Gleichzeitig war aber da die Furcht, bald sterben zu müssen. Doch für die Patientin war das eine Beziehung mit sehr guten Voraussetzungen: Sie wusste, dass sie krebskrank ist, brauchte sich aber nicht zu verstellen wie gegenüber anderen Menschen.
Das Theater hat keinen Zweck
N.N. »Ich war echt, so wie ich bin«.
WB »Das glaube ich, dass das eine starke Rolle gespielt hat: Dass Sie gemerkt haben, es hat keinen Sinn mehr, sich selber oder ihm etwas vorzumachen, und das ist eine Chance, sich zu zeigen.«
N.N. »Ja, genau. Und deswegen hat diese Beziehung auch eine sehr gute Basis, denn es war von Anfang an alles klar auf dem Tisch, von beiden Seiten. Er stand vor der Entscheidung: Ich mag sie sehr gern und sie ist krebskrank – lasse ich mich ein oder nicht. Und ich: ‚Ich bin krebskrank, das Theater hat sowieso keinen Zweck‘. Und es war die Zeit, wo ich verliebt war bis zum Gehtnichtmehr. Aber ich war so hässlich, so wie sich eine Frau das vorstellt, und ungeschminkt im Bett und blass, operiert und dann auch noch gezeichnet durch die Be- strahlungen. Und trotzdem, er kam jeden Tag, und wir waren einfach verliebt – also egal, wie ich aussehe. Das hat eine sehr große Rolle gespielt.«
Plötzlich war ich jemand
N.N. »Und es hat auch eine große Rolle dabei gespielt, dass ich die Entscheidung getroffen habe:
Ich muss etwas tun gegen die Krankheit; ich habe ein Gefühl für mich bekommen, indem ich wusste, es gibt jemanden, der mich akzeptiert mit all meinem Mist. Ich habe meinen Mist gezeigt und werde trotzdem akzeptiert. Und das war das erste Mal in meinem Leben so.«
WB »Sie haben ein Gefühl für sich bekommen. Heißt das, dass Sie sich gefühlt haben, oder war das eine Schlussfolgerung daraus, dass er Sie liebte? Ist tatsächlich Ihr Selbstgefühl mehr geworden? Nicht nur Ihre Vorstellung vom Selbstwert, sondern auch das Gefühl, das sinnliche Gefühl für sich selbst?«
N.N. »Ja, das ist mehr geworden. Und deswegen habe ich mich auch entschieden, in Therapie zu gehen. Plötzlich war ich mir wichtiger. Plötzlich war ich jemand. Ich war vorher niemand. Ich war vorher die Tochter meiner Mutter, ich musste gut funktionieren, und plötzlich war diese gute Funktion gestoppt durch die Krankheit. Aber gleichzeitig, als ich aufhörte gut zu funktionieren, gab es jemanden, der mich liebt. Doch alles in allem habe ich im Anfang die Krankheit stark verdrängt.«
WB »Vor allem in der Stunde? Oder überhaupt?«
N.N. »Also am Anfang habe ich überhaupt sehr stark verdrängt. Zum Beispiel hatte ich die Entfernung der Schilddrüse hinter mir und es doch nicht richtig glauben wollen, bis die Metastasen kamen. Da habe ich mich entschieden: Jetzt muss ich eine Einzeltherapie haben.«
Mir wurde schwindelig bei dem Schwindel
WB »Ja, ich erinnere mich. Sie haben immer wieder geschwankt zwischen wahnsinniger Angst und völliger Gleichgültigkeit, als wäre nichts. Das machte so ein bodenloses Gefühl. Ich habe mich da sehr unsicher gefühlt, wenn ich Sie so darüber hinweggehen sah. Da wurde mir schwindelig bei dem Schwindel. Ich erinnere mich auch, dass ich manchmal sehr hart war mit Ihnen, indem ich Ihnen einfach immer wieder klar sagte, was los ist. Hatten Sie nicht manchmal eine große Wut auf mich?«
N.N. »Nein!«
WB »Nein?«
N.N. »Nein. Vielleicht hatte ich ein paar Mal eine Wut in der Stunde, aber jedes Mal, wenn ich von Ihnen wegging, wusste ich: Es war sehr wichtig für mich, zu erfahren, dass ich jemand bin.«
WB »Das ist sehr wichtig. Hatten Sie durch eine Schlussfolgerung, praktisch dadurch, dass ich mit Ihnen redete, mit Ihnen arbeitete, Ihnen begegnete durch meine Zuwendung, also den Beweis, dass Sie jemand sind, oder kam das auch aus Ihrer Erfahrung, dass Sie sich sinnlich wahrnahmen mit Ihren eigenen Gefühlen, so wie man sein Gleichgewicht oder die Muskeln spürt?«
Ich fing an, meinen Körper zu spüren
N.N. »Durch die Übungen, durch das Weinen, durch das Aufmachen, durch das Atmen; ich ging weg von Ihnen nach der Stunde und hatte ein Gefühl für mich, für meinen Körper, und das hat mich so voll Leben gemacht. Ich war lebendig. Ich wusste, ich bin jemand. Jede Zelle in mir war lebendig. Ich habe das gespürt in meinen Muskeln, in den Gefühlen im Körper. Das ist dann anfangs sehr schnell weggegangen nach der Stunde. Doch heute weiß ich, ich bin jemand, habe meine Bedürfnisse und auch meinen Platz. Das alles wusste ich damals noch gar nicht. Nun habe ich angefangen, meinen Körper zu spüren und meinen Körper kennenzulernen. Das war ja etwas, was ich total ignoriert hatte bisher.«
Eine für die Patientin völlig neue Erfahrung: Das Gefühl für den eigenen Körper, sich und ihren Körper als eins zu erleben. Das wurde bisher säuberlich getrennt. Sie bekommt wieder Freude an ihrer Arbeit als freiberufliche Journalistin. Solange Ich und Körper nicht eins waren, konnte sie nicht klar denken. Seit sie sich in ihrem Körper fühlt, merkt sie, was sie will und was sie braucht.
Ich kann klar denken
N.N. »Ich kann klar denken.«
WB »Was hat Sie früher gehindert am klaren Denken?«
N.N. »Das war alles so ein Salat. Ich glaube, es hat mich gehindert klar zu denken, dass ich irgendwie versucht habe, mich nach außen zu orientieren. Was wollen die anderen von mir, was denken die anderen über mich, was ist wichtig für die anderen? Und jetzt, indem ich meine Bedürfnisse kennenlerne, indem ich weiß, dass ich fordern kann, verlangen kann, durchsetzen kann – dadurch klärt sich etwas. Jetzt kann ich auch in meiner Arbeit klarer denken und Argumente auseinander halten.«
Krebs ist eine Unordnung
WB »Ich kenne diese falsche Aufregung, die nicht mehr zentriert ist in dem was ich selber bin, was mich interessiert, wo meine Neugier ist, sondern mehr in dem, was ich herzeigen kann. Ich glaube, dass der Krebs eine Unordnung ist, die darin besteht, dass ein Teil unproportional zum Gesamtzusammenhang wächst und sich wichtig macht. Ob das einzelne Zellen sind, wie im menschlichen Organismus, oder ob das einzelne Menschengruppen sind im Gemeinwesen oder die Menschheit im Gesamtzusammenhang der Natur – da, wo ein Teil sich auf Kosten des Ganzen vermehrt, haben wir ein Krebsgeschwür, das so frisst am Ganzen, dass das Ganze es nicht mehr ertragen kann. Ich glaube, dass der Mensch, der einen Krebs entwickelt, mit seiner Natur nicht zur Erhaltung dieser Natur umgeht, sondern diese Natur ausbeutet für bestimmte Vorstellungen. Wenn wir die Natur, wenn wir die Energiequellen ausbeuten, dann fehlt irgendwann der Boden. Dann entsteht eine bodenlose Situation. Dann verlieren wir den Idealvorstellungen von dem, was sein müsste, wie wir sein sollten, was die anderen von uns denken und so weiter, zuliebe das Gefühl für das, was wir brauchen, und für das, was wir zu geben haben. Dann geben wir auch dem Körper nicht das, was er braucht, zum Beispiel Ruhe.«
Ich war dauernd die Tochter meiner Mutter
N.N. »Das ist mein Hauptproblem gewesen, dass ich ständig in einem Stress gelebt habe, in dem ich dauernd die Tochter meiner Mutter war und sie befriedigen musste. Ich musste tun, was sie wollte.«
WB »Obwohl sie gar nicht da war.«
N.N. »Obwohl sie nicht da war. Und ich habe gar nicht realisiert, dass ich überhaupt nicht mehr zur Ruhe komme, überhaupt nicht mehr meinen persönlichen Platz habe, ihn nicht bekommen, verlangen kann. Dass ich gar nicht auf die Idee kam, dass ich Platz brauchte. Als Kind hatte ich nicht mal eine Schublade für mich selbst. Nichts, ich hatte keine Ecke. Meine Mutter war überall, weil ich ein Stück von ihr war. Nie hat sie mich als Person gesehen. Und das ging immer weiter so. 28 Jahre lang habe ich das ertragen. Länger konnte ich es nicht, mehr konnte mein Körper nicht. Er hat angefangen, seinen Platz doch zu verlangen, indem es irgendwo anfing, unordentlich in ihm zu wuchern.«
Das Signal: Die Wucherung
WB »Sie meinen, wenn ich recht verstehe, die Wucherung hat Sie daran erinnert, dass Sie sich nicht auf diese Weise missbrauchen lassen können und dass Ihr Körper seinen Platz hat in Ihrem Leben.«
N.N. »Ja, ich meine, wenn ich meinen Körper total ignoriere, dann fängt er an, eigenständig zu funktionieren, ohne mich zu fragen.«
WB »Wer ist ›mich‹?«
N.N. »Ja, ja, das ist eben das Problem. Jedenfalls funktioniert das dann nicht mehr zusammen: Mein Körper und mein Geist.«
WB »Irgend etwas macht sich selbstständig.«.
Ein Teil ihres Körpers hatte sich selbstständig gemacht. Die Patientin vermuteteinen Zusammenhang zwischen ihrem Schilddrüsenkrebs und ihrer Lebensweise: »Schilddrüsenkrebs ist auch eine Art von Überfunktion«.
Ihr ganzes Leben lang hat sie wie eine Maschine funktionieren müssen, mehr und mehr. Sie sieht in der Krankheit deshalb ein Signal ihres Körpers.
Der Körper protestiert
WB »Unsere Bedürfnisse melden sich als Unruhe. Wenn wir Bedürfnisse nicht stillen, wenn wir nicht wahrnehmen, was wir brauchen, dann eskalieren wir. Zunächst werden wir rastlos, und wenn wir nicht hinhören, werden wir schlaflos, und wenn wir dann nicht hinhören, zeigen wir Verhaltensweisen, die wir von uns nicht kennen, und wenn wir dann immer noch nicht hinhören, werden wir hektisch, entwickeln Symptome und eskalieren immer weiter. Ich glaube, dass der Krebs eine letzte Eskalation des Körpers ist, um die Gesamtperson zu erinnern, zu sagen: ›He, mich gibt es auch noch‹.«
N.N. »So habe ich es an mir erfahren; es war wie ein Aha-Erlebnis: Wenn ich meinen Körper total ignoriere, dann protestiert der Körper. Das war für mich auch sehr deutlich. Als ich die Operation hatte und die Schilddrüse weg war, fing ich sofort an mit Migräne. Ich habe gedacht, diese Migränen haben mich dazu gezwungen, endlich meine Ruhe zu haben, meinen Raum zu kriegen. Wenn ich meine Ruhe und meinen Platz nicht genommen habe, dann entwickelte sich die Migräne.«
WB »Sie hatten die Migräne gebraucht, um zu erkennen: Ich brauche Ruhe.«
N.N. »Genau so war es, ich habe das wieder gespürt, als ich eine Woche mit Martin in Sizilien war. Dann ist er weggefahren. Dann war ich mit meiner Mutter eine Woche zusammen und bin allmählich wieder in das alte System hineingerutscht …«
WB »… die Tochter Ihrer Mutter zu sein …«
N.N. »Ja, und mich total zu vergessen. Total! Am Anfang, als ich mit ihr alleine blieb, habe ich eine Depression gehabt, sehr viel Angst, als Martin weggegangen ist. Zum ersten Mal fühlte ich mich von ihm so abhängig. Aber das war die Angst, dass ich wieder in das System reinrutschte. Dauernd habe ich mit meiner Mutter geredet und bin einkaufen gegangen mit ihr, habe versucht sie zu ändern, ihr zu erklären, wie unsere Beziehung ist und sie immer wieder nicht verstanden, mit ihr gestritten. Und dann wusste sie immer, wann ich friere, und wollte mir meine Jacke überhängen. Sie wusste, ob ich Hunger habe oder nicht, sie wollte füttern und so. So ging der ganze Tag vorbei, und ich habe mich überhaupt nicht aufgeregt: Was will ich, und wer bin ich. Ich war total vergessen. Drei Tage hat es gedauert, das Spiel. Dann habe ich eine Migräne gehabt, das hat mich umgehauen. Einen ganzen Tag lang habe ich mich übergeben und aufs Klo rennen müssen und meinen Kopf gehalten. Ich konnte überhaupt nicht mehr. Das war wie eine Explosion in meinem Körper nach oben und nach unten. Und ich wusste: Ich kann nicht mehr mit der Frau. Ich werde verrückt. Sie treibt mich zum Wahnsinn … Ich weiß heute innerlich, ich hätte genau so gut statt krebskrank schizophren werden können …«
WB »… durch die Ausweglosigkeit dieses Kommunikationssystems …«
N.N. »… Ja, das ist so ausweglos. Ich bin dann so resigniert und erschöpft. Krebskrank sein, das ist doch auch eine sehr starke Trennung in zwei Denkarten.«
WB »In zwei?«
N.N. »Ja, in zwei Teilen. Im Körper macht sich etwas selbstständig, und ein Organ wuchert. Da ist also die Einheit gestört, und das ist ja bei der Schizophrenie auch so. Ich brauche meinen Platz, ich brauche meine Ruhe. Ich war froh, dass mein Körper so reagiert. Früher habe ich es mit meiner Mutter ewig so ausgehalten.«
Der Migräneanfall macht Frau N.N. klar, dass ihr die Mutter zu viel ist. Sie versteht die Krankheit Migräne aIs indirekte Aufforderung zu einer Handlung, sich der ständigen Bevormundung zu entziehen und Sie lernt ihrem Körper zu trauen.
Später lernt sie, sich im direkten Kontakt abzugrenzen, als während eines Migräneanfalls ihr Mann im Restaurant von ihrem Teller isst, ohne sie zu fragen, sagt sie: »Lass meinen Teller!« Sie habe ihren Mann angeschaut und diesen Satz mehrfach wiederholt, und mit jedem Mal lösten sich die Spannungen im Kopf etwas mehr.
N.N. »Dann fing ich bewusst an zu atmen … Und von da ab, jedes Mal, wenn eine Migräne angefangen hat, wurde ich sofort aufmerksam, was früher nie der Fall war. Und ich habe mich gestoppt, habe gesagt: ›Hoppla, was habe ich jetzt gemacht.‹ Ich habe mich wieder überfordert und habe mich wieder verloren.«
WB »Überforderung irgendwelchen Vorstellungen zuliebe wie Sie sein sollten?«
N.N. »Ja, genau. Und ich habe gedacht: ›Seit wann habe ich nicht mehr geatmet?‹ So ein Gefühl. Und dann habe ich bewusst angefangen zu atmen. Eine Zeit lang. Ganz bewusst.«
WB »Dann spürt man sich ja schon wieder selber …«
N.N. »Ja, indem ich anfing, bewusst zu atmen, löste sich die Migräne auf. Seitdem habe ich keine.
Und wenn ich manchmal so ein bisschen Kopfschmerzen habe, dann konzentriere ich mich auf meinen Körper, atme bewusst, und dann wird es immer besser. Jedenfalls hängt meine Krankheit für mich sehr stark zusammen mit meiner Unfähigkeit, gegenüber der Außenwelt meine Grenzen zu finden und zu setzen.«
Grenzen finden – Abstand halten
Der Therapeut fragt, wie die Patientin ihre Grenzen wieder findet.
N.N. »Indem ich mich entspanne, konzentriere. Jede Explosion bringt Entspannung. Wenn ich sagen kann: ›Nein! Hier ist meine Grenze und hier fange ich an!‹, dann brauche ich meine Migräne nicht mehr, und ich brauche nicht mehr allein zu bleiben, um Ruhe zu haben.«
WB »Ja! Wir finden unsere Grenzen dadurch, dass wir bei jemandem anderen ankommen. Und wir setzen sie dadurch, dass wir den Abstand richtig bestimmen.«
Was ist sterben?
Dann spricht Frau N.N. über ihre Angst wegen der Krankheit. Sobald sie sich Zeit nehmen und richtig schlafen konnte, war sie auch imstande, ihre Krankheit zu akzeptieren. Sogar die Aussicht, an ihr zu sterben, ließ sie gelassen: »Ich sterbe einmal. Alle sterben einmal.« Doch die Patientin wollte nicht im Betäubungszustand durch schmerzlindernde Drogen, sie wollte bewusst sterben.
WB »Sie wollen selbst dabei sein?«
N.N. »Ja, und dann habe ich so geübt eine Zeit lang. Ich habe mich gefragt: ›Was ist Sterben?‹ Irgendwie habe ich rausgekriegt, dass ich Angst habe vor dem Sterben. Es ist die Angst, die ich auch im Leben habe. Es ist die Angst vor dem Alleinsein. Das Sterben ist für mich Alleinsein. Wenn ich sterbe, habe ich die ganzen Leute, die ich jetzt habe, nicht mehr.«
WB »Das erscheint paradox. Sie explodieren, wenn Sie zuviel gemeinsam sind. ›Ich brauche meinen Platz.‹, und gleichzeitig haben Sie Furcht vor dem Alleinsein. Empfinden Sie das jetzt noch als einen Gegensatz, als einen Konflikt, oder haben sie Zeiten, wo Sie allein sind?«
N.N. »Wenn ich spüre, dass ich mit Martin zu sehr zu einer Symbiose tendiere, dann wird mir auch gleichzeitig bewusst, dass mir die Symbiose nicht gefällt.«
Der Therapeut erklärt der Patientin dann, dass niemand anderer sie habe heilen können als die Patientin selbst, nicht einmal sie selbst, sondern die Natur, die ganze Natur. Das Einzige, was wir tun können: Dass wir uns ihr nicht in den Weg stellen.
WB »Was glauben Sie, was Sie tun können, um in Kontrolle zu bleiben – um Ihr Abwehrsystem so lebendig zu halten, dass das, was so an Krebs in jedem von uns herumschwimmt, nicht wieder zum Zuge kommt. Das steht jetzt ja schon in den Zeitungen, dass wir alle Krebs in uns haben, und dass es von unserer Abwehrbereitschaft abhängt, ob wir seiner Herr werden.«
Auch die Ernährung ist wichtig
N.N. »Ja. Abwehr, Grenzen! Doch inzwischen habe ich gemerkt: Nicht nur Psychotherapie ist wichtig, auch Ernährung und eine Menge anderes. Und ich habe vor einiger Zeit eine Null-Diät gehalten.«
WB » Sie haben gefastet?«
N.N. »Ja, fünf Tage lang; und das hat mir so gut gefallen. Früher konnte ich das nicht. Jetzt war ich reif dafür. Ich war ja sehr abhängig vom Essen früher und gierig. Immer wieder habe ich mir vorgenommen, ich esse nicht mehr so viel, und es ging nicht. Und jetzt plötzlich konnte ich fasten. Fünf Tage lang, und es hat mir sogar gefallen.«
WB »Mir gefällt es immer wieder.«
N.N. »Ich habe auch gedacht: Das ist etwas, das muss ich öfter wiederholen. Beim Fasten bekomme ich auch eine innere Ruhe und ein sehr gesundes Gefühl für das, was ich essen will und was nicht. Ich achte jetzt ganz natürlich und normal darauf, was ich esse.«
Aus dieser Einstellung entwickelt sich bei der Patientin ein ausgeprägtes Bedürfnis zu stärkerem Kontakt mit der Natur. Sie wohnt jetzt in der Landregion, obwohl sie im Grunde ein Großstadtmensch war. Sie hat sich selbst gefunden.
N.N. »Ich habe gemerkt, wie sehr ich nach außen orientiert war, Leute zu finden, wenn ich mich nicht gut gefühlt habe. Doch jetzt ist es nicht einfach, nach München zu fahren, um Leute zu finden. Also bleibe ich mit mir. Und es gefällt mir besonders gut, wenn Martin Dienst hat und ich ganz allein bin.«
WB »Sie sind sich selber interessant genug?«
N.N. »Nicht nur das. Früher hatte ich auch viel Langeweile, wenn ich allein war. Heute stärkt mich der Kontakt mit der Natur, denn dann bin ich auch in Kontakt mit mir. So komme ich zur Ruhe, zu meinem eigenen Rhythmus.«
WB »Vorhin waren wir beim Raum, jetzt sind wir bei der zweiten wichtigen Größe, der Zeit.«
N.N. »Ja, das ist so wichtig für mich: Raum und Zeit. Und wenn ich diese beiden habe, dann habe ich auch nicht mehr so viel Angst vor dem Sterben.«
WB »Wie meinen sie das?« Sterben ist nicht das Ende
N.N. »Wenn so viel Bewegung ist vor meinen Augen, und wenn ich keinen Raum habe, dann vergesse ich auch, dass ich sterbe und erschrecke mich dann, wenn ich in einem anderen Moment daran erinnert werde. Kann ich mich aber draußen auf mich zurückziehen, so weiß ich, dass auch ich sterblich bin; dass der Tod in mir drin ist.«
WB »Und was bedeutet das für Sie?«
N.N. »Das macht mir überhaupt nichts. Ich bin ruhig. Ich erschrecke mich nicht, wenn ich daran denke. Es ist so schön, wenn man mit der Natur lebt und sieht, wie alles stirbt und wieder lebendig wird. Deshalb habe ich das Gefühl, ja, ich werde mal sterben, aber das ist nicht das Ende. Das ist auch so unwichtig, wenn ich sterbe. Das geht weiter …!«.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages nachgedruckt aus: SIGNAL, Heft 2 /1982